Digitales Programmheft zu
Monique Bricht aus:
nach dem Buch von Édouard Louis:
Interview mit Sara Ostertag:
Eine beispielhafte Biografie:
Regisseurin Sara Ostertag im Gespräch mit Dramaturgin Sophie Steinbeck
„Monique bricht aus“ setzt dort an, wo das Vorgängerbuch „Die Freiheit einer Frau“ aufhört: beim vermeintlichen Happy End der Figur Monique, das sich als Illusion entpuppt. Was erzählt uns das Stück über Befreiung und Freiheit?
Édouard sagt im Stück: Ich habe gewonnen. Er sagt das über seine Mutter Monique, und auch über sich selbst. Dieser Sieg sieht bei beiden sehr unterschiedlich aus. Bei ihm besteht die Befreiung aus einer kompletten Rekonstruktion seiner früheren wie gegenwärtigen Existenz, die es ihm dann erlaubt, mit Distanz über seine Biografie zu sprechen. Bei Monique ist es stattdessen das Erkennen eines Kreislaufs der Gewalt, in dem sie und die Frauen ihrer Familie stecken und gesteckt haben. Durch das wiederholte Durchbrechen dieses Kreislaufs zumindest zu erkennen, dass es den Kreislauf gibt - das ist die Freiheit, die beschrieben wird.
Die Inszenierung teilt die Figuren auf mehrere Sprechinstanzen auf: mehrere Spielende spielen gemeinsam die unterschiedlichen Rollen. Kannst du etwas zum Konzept der Rollenaufteilung und Besetzung sagen?
Zum einen wird über Monique in unterschiedlichen Perioden ihres Lebens gesprochen, daher haben wir Frauen unterschiedlichen Alters auf der Bühne. Das Aufbrechen einer normalen Rollenverteilung hilft auch, die Inszenierung als Auseinandersetzung mit einer Biografie zu sehen – eine Biografie, die etwas sehr Beispielhaftes hat. Die Inszenierung wie auch das Buch erzählen nicht die Geschichte einer Figur nach, sondern sie schauen die Begebenheiten an, die zu dieser Geschichte führen.
Die Täterfiguren kommen im Buch nicht gross vor; sie werden nicht als Figuren beschrieben, es wird nur über sie erzählt, ihnen wird kein Körper gegeben. Die Muster einer patriarchalen Ordnung sind derart in die Körper eingeschrieben, dass es die Anwesenheit des Mannes gar nicht braucht. Es geht also nicht zwingend um die einzelnen Personen Monique, ihre Ex-Partner, Édouard, sondern um ein übergreifendes System – um Habitus, um Gelerntes, das sich in einem patriarchalen Gesellschaftssystem konstituiert.
Die Täterfiguren kommen im Buch nicht gross vor; sie werden nicht als Figuren beschrieben, es wird nur über sie erzählt, ihnen wird kein Körper gegeben. Die Muster einer patriarchalen Ordnung sind derart in die Körper eingeschrieben, dass es die Anwesenheit des Mannes gar nicht braucht. Es geht also nicht zwingend um die einzelnen Personen Monique, ihre Ex-Partner, Édouard, sondern um ein übergreifendes System – um Habitus, um Gelerntes, das sich in einem patriarchalen Gesellschaftssystem konstituiert.
Im Buch gibt es die Erzählerfigur Édouard. Von ihr bekommen wir unsere Informationen über Monique – es ist nicht Monique, die spricht, sondern es wird über sie gesprochen. In der Bühnenfassung ist ein Teil des Textes umverteilt: Monique spricht selbst über sich und auch über Édouard. Was lernen wir über Édouard und Monique, indem sie nicht nur von sich, sondern auch als bzw. über die andere(n) Person(en) sprechen?
Das Buch ist so konstruiert, dass Édouard über Monique spricht, es ist sein Narrativ über sie. Édouard versucht Monique zu analysieren, oder zu verstehen, über seine Denkwerkzeuge. Dieses Narrativ über sie erzählt viel über ihn. Es geht im Endeffekt nicht um sie, sondern darum, mit seinen Denk- und Erzählwerkzeugen Situationen ihres Lebens nachzuvollziehen. Diese Situationen sind natürlich komplett aus seiner Perspektive: Er ist ein Mann, ein queerer Mann, aber trotzdem als Mann sozialisiert. Diese Erzählkonstruktion an manchen Stellen aufzulösen, indem eine Schauspielerin als „ich“ über Monique spricht, bedeutet trotzdem nicht, Monique sprechen zu lassen; sie erzählt nie selbst, es wird immer über sie gesprochen. Aber das „ich“ hilft beim Zuschauen, und vor allem beim Spielen, sich mit gewissen Situationen zu identifizieren oder zu verbinden.
Neben der Klassenthematik behandelt „Monique bricht aus“ häusliche Gewalt, sowohl zwischen Partner:innen als auch zwischen Eltern und Kindern. Welche Rolle spielt die Choreografie in der Inszenierung in Hinblick auf das Thema Gewalt?
Die Sprache in „Monique bricht aus“ ist nicht besonders gewaltvoll, es wird sehr viel umschrieben. Es gibt in diesem Feld des soziologischen Schreibens, in dem sich Louis bewegt, viel härteren Sprachgebrauch. Louis' Sprache lässt in diesem Buch sehr distanzierte Bilder entstehen, die nicht minder unangenehm sind, aber eine*n nicht in ein physisches Empfinden führen.
In meinem Arbeiten spielen physische Aspekte immer eine große Rolle. Das Unsagbare, Dinge, die dem Körper eingeschrieben sind, sind manchmal leichter über sinnliches Erfahren nachvollziehbar. Gewalt oder das Nicht-Nah-Sein-Können können oftmals spannender über Non-Verbales erzählt werden als über eine verbale Beschreibung. Choreografie abstrahiert die Gewalt, die eine physische Erfahrung ist, ohne sie nachzubilden. Sie findet eine Übersetzung dafür.
In meinem Arbeiten spielen physische Aspekte immer eine große Rolle. Das Unsagbare, Dinge, die dem Körper eingeschrieben sind, sind manchmal leichter über sinnliches Erfahren nachvollziehbar. Gewalt oder das Nicht-Nah-Sein-Können können oftmals spannender über Non-Verbales erzählt werden als über eine verbale Beschreibung. Choreografie abstrahiert die Gewalt, die eine physische Erfahrung ist, ohne sie nachzubilden. Sie findet eine Übersetzung dafür.
Louis sagt in einem Interview, er schreibe „für diejenigen, die Feind*innen derer sind, über die ich schreibe, um sie mit einer Realität zu konfrontieren, die sie nicht sehen wollen.“ Findet diese Konfrontation im Theater statt? Und was könnte sie bewirken?
Ich behaupte, diese Klassenkonfrontation ist schwer bis unnötig herzustellen. Häusliche Gewalt gibt es immer, egal wie reich oder arm die Leute sind. Ebenso patriarchale Strukturen, die eine gewisse Gewalt in sich tragen, sei es eine physisch ausagierte, eine psychische oder eine, welche die Lebenskonstruktionen vordeterminiert, wie es bei Monique der Fall ist, diese Strukturen sind allanwesend. Sie zeigen sich in unterschiedlichen Milieus wahrscheinlich anders, aber sie können von jedem Publikum gelesen werden, weil sie überall stattfinden.
Es geht wieder von vorne los:
oder Der Preis der Freiheit:
Bevor wir erneute Versuche der Befreiung entwerfen können, müssen wir zurückschauen: auf frühere Befreiungsversuche. [...] Es geht darum zu verstehen, wie die Befreiung versucht wurde, warum sie gescheitert ist – und wie es vielleicht anders geht.aus "Theorie der Befreiung" von Christoph Menke
Christoph Menke proklamiert in „Theorie der Befreiung“ eine „Zeit gescheiterter Befreiungen“, die zu neuen Zwängen und Abhängigkeiten führen. Monique Belleguele, Mutter von fünf erwachsenen Kindern, steht nach der Trennung von ihrem zweiten Mann wieder an einem Punkt ihres Lebens, den sie bereits zweimal überwunden glaubte: in der finanziellen und emotionalen Abhängigkeit von einem gewalttätigen, alkoholabhängigen Mann. Und erneut wendet sie sich an ihren Sohn Édouard – gemeinsam planen sie eine weitere Flucht, einen weiteren Neuanfang, eine neue Befreiung.
„Monique bricht aus“ stellt die Frage nach dem Preis dieser Befreiung. Minutiös notiert der Autor Édouard Louis die Ausgaben, die für den Neuanfang seiner Mutter anfallen – Taxifahrt, Einkäufe, Kaution und Einrichtung für eine eigene Wohnung. „Warum hattest du so einen grossen Drang, ihr zu helfen?“, fragt sich Louis. Schonungslos und dennoch liebevoll untersucht er Moniques Vergangenheit – und rekonstruiert einen Kreislauf der Gewalt, aus dem er sich selbst sein Leben lang zu befreien suchte.
„Die eigene Befreiung rechtfertigt, die anderen zu beherrschen – um sie damit zu befreien“, schreibt Menke. Louis' eigene Flucht- und Befreiungsgeschichte aus einer Herkunft in Armut und Gewalt verläuft als zweiter Handlungsstrang zu der Geschichte seiner Mutter. Seine erreichte Freiheit, intellektuell wie finanziell, erlaubt ihm dabei nicht nur die praktische Hilfe, sondern auch eine Wiederannäherung an seine Mutter. Gleichzeitig führt sie auch zu Spannungen in der Familie: das Schreiben über die eigene Herkunft, die Gewalt, die aus den patriarchalen wie neoliberalen Strukturen erwächst, wird von den Zurückgelassenen als Verrat empfunden. Die Metamorphosen von Mutter und Sohn spiegeln sich, unterscheiden sich aber in einem elementaren Punkt: während Louis durch sein Studium und sein Schreiben in eine andere Klasse wechselt, zieht Monique Belleguele aus Paris zurück in die nordfranzösische Provinz und verbleibt in ihrer Klasse. Ohne Mann und ohne von ihr abhängige Kinder lebt sie das erste Mal alleine. Im Gegensatz zu „Freiheit einer Frau“, das mit einer beinahe märchenhaften Verwandlung – ein Umzug nach Paris, eine Zigarette mit Catherine Deneuve – endet, dauert die Befreiung in „Monique bricht aus“ an. Sie beginnt mit der Loslösung von etwas Schlechtem, und findet kein Ende.
Freiheit und Herrschaft sind unauflöslich ineinander verstrickt. Dabei ist Befreiung nach Menke nicht die Vorgeschichte der Freiheit, sondern ihre Vollzugsweise. „Monique bricht aus“ hat kein Happy End – Freiheit ist kein Zustand, sondern ein immerwährender Akt des Widerstands.
„Monique bricht aus“ stellt die Frage nach dem Preis dieser Befreiung. Minutiös notiert der Autor Édouard Louis die Ausgaben, die für den Neuanfang seiner Mutter anfallen – Taxifahrt, Einkäufe, Kaution und Einrichtung für eine eigene Wohnung. „Warum hattest du so einen grossen Drang, ihr zu helfen?“, fragt sich Louis. Schonungslos und dennoch liebevoll untersucht er Moniques Vergangenheit – und rekonstruiert einen Kreislauf der Gewalt, aus dem er sich selbst sein Leben lang zu befreien suchte.
„Die eigene Befreiung rechtfertigt, die anderen zu beherrschen – um sie damit zu befreien“, schreibt Menke. Louis' eigene Flucht- und Befreiungsgeschichte aus einer Herkunft in Armut und Gewalt verläuft als zweiter Handlungsstrang zu der Geschichte seiner Mutter. Seine erreichte Freiheit, intellektuell wie finanziell, erlaubt ihm dabei nicht nur die praktische Hilfe, sondern auch eine Wiederannäherung an seine Mutter. Gleichzeitig führt sie auch zu Spannungen in der Familie: das Schreiben über die eigene Herkunft, die Gewalt, die aus den patriarchalen wie neoliberalen Strukturen erwächst, wird von den Zurückgelassenen als Verrat empfunden. Die Metamorphosen von Mutter und Sohn spiegeln sich, unterscheiden sich aber in einem elementaren Punkt: während Louis durch sein Studium und sein Schreiben in eine andere Klasse wechselt, zieht Monique Belleguele aus Paris zurück in die nordfranzösische Provinz und verbleibt in ihrer Klasse. Ohne Mann und ohne von ihr abhängige Kinder lebt sie das erste Mal alleine. Im Gegensatz zu „Freiheit einer Frau“, das mit einer beinahe märchenhaften Verwandlung – ein Umzug nach Paris, eine Zigarette mit Catherine Deneuve – endet, dauert die Befreiung in „Monique bricht aus“ an. Sie beginnt mit der Loslösung von etwas Schlechtem, und findet kein Ende.
Freiheit und Herrschaft sind unauflöslich ineinander verstrickt. Dabei ist Befreiung nach Menke nicht die Vorgeschichte der Freiheit, sondern ihre Vollzugsweise. „Monique bricht aus“ hat kein Happy End – Freiheit ist kein Zustand, sondern ein immerwährender Akt des Widerstands.
Es geht nicht um mich oder um meine Mutter, es geht um die Welt, in der wir leben. Einen politischen Kampf zu führen, einen Kampf für ein besseres Leben, heisst auch kämpfen für Zärtlichkeit.Édouard Louis
Text: Sophie Steinbeck
Über den Autor Édouard Louis:
Édouard Louis wurde 1991 geboren. Sein autobiographischer Debütroman „Das Ende von Eddy“, in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf erzählt, sorgte 2015 für großes Aufsehen. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. Seine Bücher erscheinen in 30 Ländern und werden vielfach fürs Theater adaptiert und verfilmt. Im September 2025 erscheint mit „Der Absturz“ über die Geschichte seines Bruders sein neuestes Buch auf Deutsch. Seit 2024/25 zeigt das Staatstheater Wiesbaden mit „Die Freiheit einer Frau“ in der Inszenierung von Falk Richter den ersten Teil der Geschichte seiner Mutter Monique Belleguele.
Édouard Louis über Monique Bellegeule:
Édouard Louis spricht mit Tash Aw, dem Übersetzer von "Freiheit einer Frau", im London Bookclub Review über dessen Erfolgsroman.
Weiterführende Inhalte:
Christoph Melke über seine Theorie der Selbstbefreiung
Interview im Deutschlandfunk Kultur
Cynthia Cruz über ihr Manifest "Trauer und Melancholie der Arbeiter*innenklasse"
Beitrag im Magazin "Texte zur Kunst"
Working Class Daughters
Working Class Daughters ist ein Archiv, eine Intervention und eine Gruppe mit wechselnder Konstellation - Initiiert von Karolina Dreit und Kristina Dreit zusammen mit Anna Trzpis-McLean.