Digitales Programmheft zu:
Antigone:
Tragödie nach Sophokles:
von Roland Schimmelpfennig:
von Roland Schimmelpfennig:
Eine schrecklich verfluchte Familie:
Die Labdakiden, die Herrscherfamilie von Theben sind verflucht, seitdem Laios den Sohn seines Ziehvaters Pelops vergewaltigt hat. Nachdem Laios selbst König von Theben geworden ist, heiratet er Iokaste. Vom Orakel von Delphi erfährt er, dass er verflucht ist und dass sein Sohn, wenn er jemals einen bekommen sollte, ihn töten und Iokaste heiraten wird. Iokaste und Laios bekommen trotzdem ein Kind und setzen ihren Sohn Ödipus aus, damit er stirbt. Jedoch überlebt Ödipus und ermordet Jahre später Laios, ohne zu wissen, dass er sein Vater ist. Er heiratet Iokaste und bekommt mit ihr vier Kinder: Antigone, Ismene, Polyneikes und Eteokles. Als sie erfahren, dass sie Mutter und Sohn sind, sticht Ödipus sich die Augen aus und Iokaste tötet sich selbst. Jetzt regieren die Zwillinge Polyneikes und Eteokles, die sich die Herrschaft über Theben teilen sollen. Jedoch überlässt Eteokles Polyneikes nach einem Jahr nicht den Thron und es kommt in Theben zu einem Krieg zwischen den beiden Brüdern, an dessen Ende sie sich gegenseitig erstechen.
Hier setzt „Antigone“ von Sophokles (497/496 v. Chr. - 406/405 v. Chr.), der in mehreren Stücken über den griechischen Mythos um die Labdakiden geschrieben hat, ein: König Kreon, der Bruder von Iokaste, übernimmt die Herrschaft und verweigert dem gefallenen Polyneikes die Bestattung, was Antigone dazu bewegt, sich gegen das Gesetz zu stellen, um ihrem Bruder die letzte Ehre zu erweisen. Sie setzt der patriarchalen Brutalität ihre Moralität und Liebe entgegen. Antigones Akt des Widerstands, der von Kreon mit dem Tod bestraft wird, bringt das autoritäre System ins Wanken.
Text: Cosma Corona Hahne
Hier setzt „Antigone“ von Sophokles (497/496 v. Chr. - 406/405 v. Chr.), der in mehreren Stücken über den griechischen Mythos um die Labdakiden geschrieben hat, ein: König Kreon, der Bruder von Iokaste, übernimmt die Herrschaft und verweigert dem gefallenen Polyneikes die Bestattung, was Antigone dazu bewegt, sich gegen das Gesetz zu stellen, um ihrem Bruder die letzte Ehre zu erweisen. Sie setzt der patriarchalen Brutalität ihre Moralität und Liebe entgegen. Antigones Akt des Widerstands, der von Kreon mit dem Tod bestraft wird, bringt das autoritäre System ins Wanken.
Text: Cosma Corona Hahne
Über die Inszenierung:
Mikheil Charkvianis wendet in seiner Inszenierung die biomechanische Methode von Wsewolod Meyerhold an, die durch choreografierte Bewegungsabläufe die Schauspieler*innen in körperliche (Extrem-)Zustände versetzt. Außerdem sieht Charkviani, der sich in seiner Heimat Georgien als politischer Aktivist gegen die prorussische Regierung einsetzt, in Antigones Resistenz eine Parallele zu (weiblichen) Widerstandskämpfen in autokratischen Staaten auf der ganzen Welt. Sein Bühnenbild, das aus zwölf Klavieren besteht und in den Publikumsraum erweitert wird, ist ein bunkerartiger Theaterraum, in dem sich nicht nur durch die Video-Ebene Zeitgeschehen mit der antiken Geschichte verbindet. Die Klavierkomposition von Erekle Getsadze, der aufgrund von Drohungen der russischen Behörden und der Regierung Georgiens 2025 ins Exil gezwungen wurde, vertont die Ausnahmesituation, in der sich Menschen im Krieg oder Widerstand befinden. Bettina Kirmairs Kostüme kombinieren gegenwärtige Widerstandsbewegungen und die 90er-Jahre, eine Zeit, in der in Georgien Bürgerkrieg herrschte:
Seit dem Zerfall der Sowjetunion flammen in Georgien immer wieder Unruhen und Unabhängigkeitsbewegungen auf. 1992/93 endete ein Bürgerkrieg mit der Abspaltung der Region Abchasien. Nach der umstrittenen Parlamentswahl im Herbst 2024, deren Ergebnis rechtlich angezweifelt wurde, gingen die Proteste wieder los und verstärkten sich nochmals, als der georgische Premierminister verkündete, die EU-Beitrittsgespräche bis 2028 aussetzen zu wollen. Seitdem protestieren täglich mehrere tausend pro-europäische Demonstrant*innen gegen die sich zunehmend an Russland annähernde Regierung, es kommt zu willkürlichen Festnahmen von politischen Aktivist*innen. Einer der bekanntesten politisch Inhaftierten ist der Theaterschauspieler Andro Chichinadze – ein Freund und Kollege von Mikheil Charkviani. Der Regisseur ist selbst betroffen, seine offen kritische Haltung versperrt ihm die Arbeit an den staatlich geförderten Theatern, den freien Theatern fehlen seit neuen restriktiven Gesetzen schlichtweg die Mittel für Produktionen.
Mit seinen Arbeiten möchte Mikheil Charkviani einen Dialog provozieren: „Meine Inszenierungen sollen Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Entwicklungen schaffen. So viele Leben sind in diesem Augenblick in vielen Teilen der Welt in Gefahr. Die Menschheit sollte jetzt darüber entscheiden, wie wir leben wollen und wie die Welt in Zukunft aussehen soll. Auch die heutigen EU-Länder werden von den Entwicklungen nicht unberührt sein. Es ist eine gemeinsame Verantwortung. Wir müssen etwas gegen die bedrohten demokratischen Werte tun.“
Text: Anne Gladitz / Cosma Corona Hahne
Seit dem Zerfall der Sowjetunion flammen in Georgien immer wieder Unruhen und Unabhängigkeitsbewegungen auf. 1992/93 endete ein Bürgerkrieg mit der Abspaltung der Region Abchasien. Nach der umstrittenen Parlamentswahl im Herbst 2024, deren Ergebnis rechtlich angezweifelt wurde, gingen die Proteste wieder los und verstärkten sich nochmals, als der georgische Premierminister verkündete, die EU-Beitrittsgespräche bis 2028 aussetzen zu wollen. Seitdem protestieren täglich mehrere tausend pro-europäische Demonstrant*innen gegen die sich zunehmend an Russland annähernde Regierung, es kommt zu willkürlichen Festnahmen von politischen Aktivist*innen. Einer der bekanntesten politisch Inhaftierten ist der Theaterschauspieler Andro Chichinadze – ein Freund und Kollege von Mikheil Charkviani. Der Regisseur ist selbst betroffen, seine offen kritische Haltung versperrt ihm die Arbeit an den staatlich geförderten Theatern, den freien Theatern fehlen seit neuen restriktiven Gesetzen schlichtweg die Mittel für Produktionen.
Mit seinen Arbeiten möchte Mikheil Charkviani einen Dialog provozieren: „Meine Inszenierungen sollen Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Entwicklungen schaffen. So viele Leben sind in diesem Augenblick in vielen Teilen der Welt in Gefahr. Die Menschheit sollte jetzt darüber entscheiden, wie wir leben wollen und wie die Welt in Zukunft aussehen soll. Auch die heutigen EU-Länder werden von den Entwicklungen nicht unberührt sein. Es ist eine gemeinsame Verantwortung. Wir müssen etwas gegen die bedrohten demokratischen Werte tun.“
Text: Anne Gladitz / Cosma Corona Hahne
How to Survive a Dictatorship / Book by Mikheil Charkviani:
Introduction
Mikheil Charkviani's "How to Survive a Dictatorship" is a documentary text at the boundary between poetry and prose, written amidst the backdrop of the repressions taking place in Georgia. It warns the reader of the dictatorship that is likely to follow and the difficulties that will accompany it. It presents the lessons that world history has taught us, the knowledge of those who have fought against the regime, and a vision of what awaits those who surrender to it.
The author distills dictatorship and its destructive nature down to its everyday aspects, its routine elements. He asserts that oppression and injustice affect everyone, regardless of how submissive a person is, regardless of whether they are supportive of the regime, regardless of whether they choose to avoid the political process altogether and live only within the confines of their own life.
This is a guide for anyone who fights, who believes, who sees the future and is willing to sacrifice their life for what they believe in. (…)
The author distills dictatorship and its destructive nature down to its everyday aspects, its routine elements. He asserts that oppression and injustice affect everyone, regardless of how submissive a person is, regardless of whether they are supportive of the regime, regardless of whether they choose to avoid the political process altogether and live only within the confines of their own life.
This is a guide for anyone who fights, who believes, who sees the future and is willing to sacrifice their life for what they believe in. (…)
Part One: See The System
They don't use force on the people at first,
first they use force on the language.
In the new language, „order" means „inevitable,"
„tradition" means „submission,"
„change" means „control."
After this, the rituals will change:
a new hymn
a new calendar
new national holidays.
At first the changes are imperceptible, though soon enough they'll cause discontent,
but you'll get over it.
You'll go to work as usual.
Public transport will run better than usual.
The children will go to school and learn to be on their own.
It won't be the people who do this,
it'll be the system - a machine created by tiny concessions -
when questions no longer arise,
when people start to nodding along to an endless sentence,
this machine will gain fuel.
Many will laugh,
many will find good in it,
many will stop speaking up and advise you that its
safer this way.
This is how it starts:
not with yelling, but with warnings.
Not with weapons, but with applause.
Not with prohibitions, but with morality.
Then, someday, they'll say that this is completely normal.
At first this will confuse you.
Later you'll call it history
and someone younger than you will ask you:
How could you not see it from the start?
first they use force on the language.
In the new language, „order" means „inevitable,"
„tradition" means „submission,"
„change" means „control."
After this, the rituals will change:
a new hymn
a new calendar
new national holidays.
At first the changes are imperceptible, though soon enough they'll cause discontent,
but you'll get over it.
You'll go to work as usual.
Public transport will run better than usual.
The children will go to school and learn to be on their own.
It won't be the people who do this,
it'll be the system - a machine created by tiny concessions -
when questions no longer arise,
when people start to nodding along to an endless sentence,
this machine will gain fuel.
Many will laugh,
many will find good in it,
many will stop speaking up and advise you that its
safer this way.
This is how it starts:
not with yelling, but with warnings.
Not with weapons, but with applause.
Not with prohibitions, but with morality.
Then, someday, they'll say that this is completely normal.
At first this will confuse you.
Later you'll call it history
and someone younger than you will ask you:
How could you not see it from the start?
Part Six: How to Commit Heroic Deeds without Having to Be Heroes
You can't always be bold,
so it's better if you wait for the right moment, when
boldness will be necessary.
It's not necessary to say everything,
it's catastrophically important to listen to everything.
To listen and to remember.
Don't forget anything,
not forgetting is resistance.
If you're a public servant,
you could, completely accidentally, lose important documents.
If you work as a waiter,
you could delay wealthy clients' orders.
If you're writing a report,
use their language against them.
For example, instead of saying, „The system is corrupt,"
you'll write, „Financial excesses have been discovered in several departments" - They won't catch that for a long while.
You might do no actual harm,
but by not noticing the harm they do,
you'll do such harm that one day they'l be done for.
Smile at them when they expect fear from you.
Smile slightly, modestly, it'll confuse them.
They want you to holler at them
so that later they can shut you up in front of other people.
So speak calmly with them –
it'll drive them crazy.
They need a victim,
so don't be the thing that they need.
Every night, tell your children what your youth was like,
and warn them not to tell anyone.
Teach your children to ask the kinds of questions
that won't be answered with yelling.
Your faith is the last thing they will take from you.
So don't lose it and have faith
that there must be someone like you among these people.
so it's better if you wait for the right moment, when
boldness will be necessary.
It's not necessary to say everything,
it's catastrophically important to listen to everything.
To listen and to remember.
Don't forget anything,
not forgetting is resistance.
If you're a public servant,
you could, completely accidentally, lose important documents.
If you work as a waiter,
you could delay wealthy clients' orders.
If you're writing a report,
use their language against them.
For example, instead of saying, „The system is corrupt,"
you'll write, „Financial excesses have been discovered in several departments" - They won't catch that for a long while.
You might do no actual harm,
but by not noticing the harm they do,
you'll do such harm that one day they'l be done for.
Smile at them when they expect fear from you.
Smile slightly, modestly, it'll confuse them.
They want you to holler at them
so that later they can shut you up in front of other people.
So speak calmly with them –
it'll drive them crazy.
They need a victim,
so don't be the thing that they need.
Every night, tell your children what your youth was like,
and warn them not to tell anyone.
Teach your children to ask the kinds of questions
that won't be answered with yelling.
Your faith is the last thing they will take from you.
So don't lose it and have faith
that there must be someone like you among these people.
Roland Schimmelpfennig & „Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben“
Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind erschienen: „Die Frau von früher“, „Trilogie der Tiere“, „Der goldene Drache“ und „Anthropolis“. 2016 erschien sein erster Roman „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“, der auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand. Es folgten die beiden Romane „Die Sprache des Regens“ (2017) und „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ (2021). Zuletzt erschien sein Roman „Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen“ (2025). Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin und Valencia.
In Schimmelpfennigs Werk „Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben.“ sind die Neuübersetzungen, Überschreibungen und Neudichtungen „Dionysos“, „Laios“, „Ödipus“, „Iokaste“ und „Antigone“ zu finden. Roland Schimmelpfennig wirft darin einen modernen Blick auf die Antike und auf die großen griechischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides. Seine Übersetzungen sind von sprachlich unvergleichlicher Klarheit, seine Überschreibungen radikal, seine neuen Texte führen die Leser und das Theaterpublikum zurück zu den Ursprüngen des europäischen Theaters. Und ganz nebenbei schließt Roland Schimmelpfennig mit seiner eigenen Version des „Laios“ eine zweitausendfünfhundert Jahre alte Lücke.
In Schimmelpfennigs Werk „Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben.“ sind die Neuübersetzungen, Überschreibungen und Neudichtungen „Dionysos“, „Laios“, „Ödipus“, „Iokaste“ und „Antigone“ zu finden. Roland Schimmelpfennig wirft darin einen modernen Blick auf die Antike und auf die großen griechischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides. Seine Übersetzungen sind von sprachlich unvergleichlicher Klarheit, seine Überschreibungen radikal, seine neuen Texte führen die Leser und das Theaterpublikum zurück zu den Ursprüngen des europäischen Theaters. Und ganz nebenbei schließt Roland Schimmelpfennig mit seiner eigenen Version des „Laios“ eine zweitausendfünfhundert Jahre alte Lücke.
Weiterführende Inhalte:
Proteste in Georgien: Zehntausende demonstrieren gegen die Regierung
Feminist History Walk
Eine Entdeckungsreise durch die Geschichte feministischer Kämpfe, Debatten und Errungenschaften
Kartenset
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Bundeszentrale für politische Bildung
Zeitschrift zum Thema Widerstand
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