Digitales Programmheft zu

JOSEFINE:
Musikalisches Theater nach Franz Kafka:

Aus Winkeln und Mauselöchern:

von Leon Koenig

1924, bereits schwer an Tuberkulose erkrankt und durch das rapide Voranschreiten ebenjener stark geschwächt, beendet Franz Kafka die Arbeit an seiner letzten Kurzgeschichte – „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“.

„Solche oder-Titel sind zwar nicht sehr hübsch aber hier hat es vielleicht besondern Sinn, es hat etwas von einer Wage [sic]“, notiert Kafka auf einem seiner Gesprächszettel, als die auf seinen Kehlkopf übergegangene Krankheit ihm das Reden bereits zunehmend erschwert. Die Waage, von der Kafka spricht, ist im Ungleichgewicht: Josefine ringt um die Anerkennung ihrer Kunst und darum, sich vom zermürbenden Kreislauf der sie umgebenden Gesellschaft befreien zu dürfen, damit sie sich ganz dem Gesang widmen kann. Doch im Selbstverständnis des Mäusevolks ist solch eine Abweichung nicht vorgesehen. Ohne eine wirkliche Kulturschreibung oder ein Verständnis der sozialen Funktion von Kunst (die beeindruckende Wirkung von Josefines Gesang kann sich das Volk in seinem nüchternen Pragmatismus nicht erklären), genießen die Mäuse zwar die Ruhe von Josefines Aufführungen; doch eine Würdigung von Josefines Gesang als etwas, das über ein allgemein verbreitetes „Volkspfeifen“ hinausgeht, verweigert man vehement. Es kommt zum „oder“ zwischen Josefine und ihrem Volk, und die Sängerin sieht sich schließlich zu einer Entscheidung gezwungen.

Die Subjekte der Erzählung stehen im Konflikt mit sich selbst; so betreiben sie etwa – trotz der von der ominösen Erzählfigur beteuerten Unmusikalität des Mäusevolkes – eine Art Oral History der Melodien, die sie über die Jahre zu singen verlernt haben. Auch Josefine stellt einen Punkt der Ambivalenz innerhalb der Gesellschaft dar: so ist die Beziehung zwischen ihr und der Masse geprägt von einer Wechselhaftigkeit zwischen Bewunderung und infantilisierender Fürsorglichkeit. Kafka lässt die Leser*innen in Form einer unzuverlässigen Narration auf Josefine blicken – als einzige weibliche* Protagonistin im Kafkaschen Werk wird Josefine ausgestellt, von außen beobachtet und bewertet, bis sie schließlich ihre Belastungsgrenze erreicht. Was mit „unserer Sängerin“ passiert, erfahren wir nicht – eines Tages kann das Volk sie schlicht nicht mehr finden und bleibt zurück mit all den Fragen, die die Zäsur Josefine aufgerissen hat.
»Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen?«
Wie verhält sich eine Gesellschaft als Gruppe gegenüber der Künstlerin* als Individuum – und was macht Kunst eben zu Kunst? Unter diese Forschungsfrage stellt Regisseurin Clara Freitag den spartenübergreifenden Abend „JOSEFINE“. Die Inszenierung bringt die Kurzgeschichte in direkten Austausch mit der Aufführungsstätte: Freitag lässt ein Mäusevolk in den Keller und auf die Studiobühne des Wiesbadener Staatstheaters einziehen, welches seit mehr als einem Jahrhundert das Treiben im Haus aus Mauselöchern und Schlupfwinkeln beobachtet. Die Kellergänge des Hauses werden nach und nach von Planbauten eingenommen, mit welchen die Mäuse Platz für die immer weiter nachrückenden Generationen ihres Stammbaumes zu schaffen versuchen. In enger Zusammenarbeit mit Bühnen- und Kostümbildnerin Magdalena Weber entstand hier ein modulares Bühnenkonzept, welches sich an die groß angelegten Wohnraumprojekte im deutschsprachigen Raum während des frühen 20. Jahrhunderts anlehnt. Zeitgleich spielen Webers Kostümentwürfe mit Kafkas Vorliebe für anthropomorphe Tierfiguren, die im Œuvre des Schriftstellers immer wieder einen prominenten Platz einnehmen. Lara Alarcón entwirft zusätzlich eine dezente, industriell anmutende Soundkulisse, die die Bauarbeiten des Mäusevolkes auch auf die klangliche Ebene hebt.

Josefines Rolle als eigenwillige Sängerin, die sich gegen die Widerstände einer ihrer Kunst gegenüber verschlossenen Gesellschaft durchsetzt, spiegelt sich neben dem Bühnengeschehen auch in der musikalischen Auswahl des Abends wider: Das von den Mäusen in allen Ecken des Staatstheaters gesammelte Liedgut ist gänzlich zusammengestellt aus Werken mit weiblicher* Autorinnenschaft. Dabei handelt es sich um Kunstlied-Ausgrabungen, wie etwa Emilie Mayers Interpretation von Goethes „Erlkönig“, aber auch Popsongs wie Kate Bushs „Wuthering Heights“ oder fuffifufzichs „Ciao Amore Mio“. Gemeinsam mit dem aus Schaupieler*innen und Sänger*innen bestehenden Ensemble entwickeln Freitag und Team eine in der Gegenwart verankerte und zugleich zeitlose Josefine, gespickt mit popkulturellen Referenzen, vielseitiger Musik und Humor – ein Abend, der Franz Kafka einen erfrischend neuen Kontext gibt.

Die Musik:

Alle in der Produktion zu hörende Musik stammt aus weiblicher* Autorinnenschaft (mit Ausnahme mehrerer Vertonungen bereits existierender Gedichte). Die Werke sind in der Reihenfolge ihres Auftretens gelistet.
Hildegard Knef (*1925 †2002)
deutsche Schauspielerin, Sängerin und Autorin
LIED: ICH GEBE ALLES AUF (1974)

Kate Bush (*1958)
englische Sängerin, Produzentin, Songwriterin und Tänzerin
LIED: WUTHERING HEIGHTS (1978)

Louise Reichardt (*1779 †1826)
deutsche Sängerin, Komponistin
LIED: UNRUHIGER SCHLAF
Text von: Achim von Arnim

Emilie Mayer (*1812 †1883)
deutsche Komponistin
LIED: ERLKÖNIG (1842)
Text von: Johann Wolfgang von Goethe

Le Tigre
US-amerikanische, feministische Art Punk-Band
LIED: DECEPTACON (1999)

Yoko Ono (*1933)
Japanisch-US-amerikanische Künstlerin, Experimentalkomponistin und Sängerin
LIED: IT’S GONNA RAIN (LIVING ON TIPTOE) (1985)

Lady Gaga (*1986)
US-amerikanische Sängerin, Songwriterin und Schauspielerin
LIED: APPLAUSE (2013)

Dolly Parton (*1946)
US-amerikanische Sängerin, Songwriterin, Schauspielerin und Unternehmerin
LIED: I WILL ALWAYS LOVE YOU

Alma Mahler (*1879 †1964)
Österreichisch-US-amerikanische Komponistin
LIED: DIE STILLE STADT (1910)
Text von: Richard Dehmel

Luise Greger (*1861 †1944)
deutsche Komponistin und Sängerin
LIED: WENN ICH EINST ZUM LETZTEN MALE
Text von: Oskar Ludwig Brandt

Fuffifufzich
deutsche Musikerin und Rapperin
LIED: CIAO AMORE MIO (2022)

„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell auf einander zu daß ich schon im letzten Zimmer bin und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“
„Du mußt nur deine Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

„Kleine Fabel“ verfasst von Franz Kafka ca. 1920, posthum veröffentlicht und betitelt von Max Brod

Die Kostüme & die Bühne:

Magdalena Weber ließ sich für das Bühnenbild von Planbauten aus dem frühen 20. Jahrhundert und der DDR inspirieren; die Kostüme wiederum spielen auf Kafkas Vorliebe für antropomorphe Tierfiguren an.
Die hier abgebildeten Skizzen entstanden früh im Prozess und zeigen verschiedene, teils nicht realisierte Ideen für Bühne und Kostüm. Zwischen den Charakterskizzen findet sich auch Kafkas „Kleine Fabel“, welche einen kurzen Dialog zwischen einer Maus und einer Katze skizziert.

Josefines Interview:

Für eine zentrale Szene des Stücks, Josefines Interview, interessierte sich Regisseurin Clara Freitag besonders für die (teils hochproblematischen) Eigenarten, mit denen Künstlerinnen* sich immer wieder in Interview- und Fernsehformaten konfrontiert sehen, ebenso wie die Elemente der Selbstdarstellung, die hier zum Vorschein kommen. Aus einer Vielzahl solcher Gespräche (darunter Hildegard Knef, Maria Callas und Nina Hagen) entstand eine Collage verschiedenster „Josefine-Dialoge“, welche die Schwierigkeit der Künstlerinnen*schaft im Licht der Öffentlichkeit verdeutlicht.
Besonders stark sticht das eklatante Interview heraus, welches die US-amerikanische Journalistin Diane Sawyers mit der damals 22-Jährigen Britney Spears führte. Im Laufe des Gesprächs manipuliert Sawyers den Popstar und konfrontiert sie unter anderem mit den Gewaltfantasien der damaligen First Lady des US-Bundeststaats Maryland, die bei einer Wahlkampfkundgebung öffentlich deklarierte, Spears erschießen zu wollen, hätte sie nur die Gelegenheit. Rebekka Endler beschreibt die Begegnung in ihrem 2025 erschienenen Buch „Witches, Bitches, It-Girls: Wie patriarchale Mythen uns bis heute prägen“ wie folgt:
In Spears eigenem New Yorker Apartment, mit Kerzenschein on camera und Scheinwerferlicht off camera, findet das Duell Sawyer vs. Spears statt. Die 55-jährige renommierte blonde Journalistin sitzt der 21-jährigen weltbekannten blonden Sängerin" gegenüber und stellt ihr übergriffige und tendenziöse Fragen zu ihrer gescheiterten Beziehung mit Popstar-Kollege Justin Timberlake und anderen Affären, zu leicht bekleideten Fotoshootings, zur Qualität ihrer Stimme, angeblicher Shoppingsucht und der Trennung der Eltern. Die gesamte Zeit überschaut die ältere Frau von oben und mit gekräuselten Mundwinkeln auf die jüngere Frau herab.' Ihre Botschaft: Seht her, eine gefallene, dümmliche Seele, die unsere Erwartungen an Girlhood (und möglicherweise sogar Womanhood) nicht mehr entspricht!
Aus: Rebekka Endler, „Witches, Bitches, It-Girls: Wie patriarchaler Mythen uns bis heute prägen", Rowohlt, 2025.
Text von: Leon Koenig

„Was sie hier pfeift, ist kein Pfeifen“

„Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen?“ – diese Frage beschäftigt das Mäusevolk nahezu ununterbrochen, wenn es um „ihre“ Sängerin geht. Kafka stellt in seiner Kurzgeschichte die Definitionsfrage künstlerischen Schaffens ins Zentrum – was macht Kunst zu Kunst?
Die Germanistin Christine Lubkoll bezeichnet „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ als „Kafkas literarisches Bekenntnis zur Unmusikalität“ (welche er sich selbst unter anderem in seinen Briefen an Milena Jesenska zuschreibt) und sieht im zentralen Konflikt ein „Zeichenproblem“. Lubkoll greift hier René Magrittes berühmtes Gemälde „La trahison des images“ (wörtlich: „Der Verrat der Bilder“) auf; Magrittes Werk hinterfragt, ob das im Bild dargestellte wirklich eine Pfeife oder eben doch nur eine begriffliche Zuschreibung ebenjener ist – unter das Bild schreibt der Surrealist: „Dies ist keine Pfeife“.
Wendet man diese Denkweise auf Josefines Kunst an, so bedeutet dies: Wird Josefines Gesang zu Gesang (also einer echten Pfeife), nur weil sie dies behauptet, oder bleibt er doch immer das ihr eigentlich angestammte Pfeifen (also keine echte Pfeife), da die Bezeichnung die Abwesenheit des Subjekts nicht ändert?
alle Zitate: Christine Lubkoll, „Dies ist kein Pfeifen. Musik und Negation in Franz Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Volume 66, pages 748–764, 1992.
Text von: Leon Koenig

Weiterführende Inhalte:

Kennen Sie Kafka?:

Anlässlich seines 100. Todestags Kafkas beschäftigt sich diese Doku mit dem anhaltenden Kult rund um den Autor.

Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse:

Die Kurzgeschichte Franz Kafkas in voller Länge

Callas‘ Pfeifen:

Der Dramatiker Terrence McNally hinterfragt den Sinneswandel in der Rezeption einer der größten Opernstimmen aller Zeiten.

Not here to make friends von Roxane Gay:

Die Autorin und Herausgeberin Roxane Gay erläutert in diesem Essay aus dem Jahr 2014, wieso der Maßstab der „likeability“ für weibliche Figuren in Literatur, Fernsehen und Film zu verwerfen sei.

Aufbruch zur modernen Stadt 1925–1933: Frankfurt, Wien und Hamburg:

Das Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt zeigt bis zum 25. Januar 2026 die Ausstellung „Aufbruch zur modernen Stadt 1925–1933: Frankfurt, Wien und Hamburg. Drei Modelle im Vergleich“, welche sich an die parallel laufende Ausstellung „100 Jahre Neues Frankfurt“ angliedert. Mit einer Viel von Architekturmodellen und Fotografien wird hier anschaulich dargestellt, wie der Bedarf nach schnellem, effizienten Wohnraum das Stadtbild der drei Metropolen prägte.