Digitales Programmheft zu:
Entrückt:
Schauspiel von Lucy Kirkwood
Demokratie in Gefahr?
Ich hab das Gefühl, dass mein Denken sich zurzeit sehr ändert
Celeste und Noah Quilter scheinen ein sympathisches, normales junges Paar zu sein: sie lernen sich über eine App kennen, ziehen zusammen, versuchen ein Kind zu bekommen, und sich dabei von Geldproblemen, Klimawandel und der steigenden Überwachung nicht die Laune verderben zu lassen. Ihren Frust über den Zustand von Politik, Gesellschaft und Demokratie teilen die beiden bald nicht nur miteinander, sondern mit einer stetig wachsenden Zahl von Follower*innen. Regelmässig produzieren sie konspirative Inhalte für Ihren Videokanal. Dabei vermischen sich reale Missstände und Skandale - die Lockdown Parties des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson, das Eingeständnis grosser Ölfirmen, aktiv gegen Klimaschutz vorgegangen zu sein, der marode Zustand des Gesundheitssystems, den Celeste als Krankenschwester am eigenen Leib erfährt – mit einer Faszination für Verschwörungstheorien. Mit der Isolation in der Coronapandemie wachsen Paranoia, Abschottung und Geldnot der Quilters – aber auch die Entschlossenheit, die Situation grundlegend zu verändern. Bis man die beiden tot auffindet. Ein gemeinsamer Selbstmord auf der verzweifelten Suche nach einer besseren Welt? Oder ein staatlich orchestrierter Doppelmord? Fest steht, dass die Quilters das Potenzial hatten, eine Massenbewegung anzustossen. Dass sie seit ihrer ersten Begegnung überwacht wurden. Und dass die britische Dramatikerin Lucy Kirkwood, die selbst als Investigativ-Autorin im Stück auftritt, geschützt durch Anti-Gesichtserkennungskleidung, möglicherweise einem grossen Skandal auf der Spur ist.
Verschwörungstheorien mögen falsch oder vereinfachend sein, aber sie können manchmal etwas auf der Spur sein. Konkret können sie sich, wenn auch ideologisch, durchaus mit echten strukturellen Un-gleichheiten befassen, […] durchaus eine Reaktion auf eine ungerechte politische Ordnung, eine un-fruchtbare oder dysfunktionale Zivilgesellschaft oder ein ausbeuterisches Wirtschaftssystem darstel-len.“Mark Fenster
Wurden Verschwörungstheoretiker*innen noch bis vor wenigen Jahren von den meisten als kleine Gruppe von Spinner*innen wahrgenommen, steigt auch in Deutschland spätestens seit der Corona-Pandemie und der daraus erfolgten „Querdenken“-Bewegung die Besorgnis und das Interesse am sogenannten Konspirationismus. Eine der verbreiteten Theorien ist „Rapture“, zu deutsch „Entrückung“, die 2025 durch ein virales Video eines südafrikanischen Priesters Aufsehen erregte. „Entrückung“ beschreibt dabei eine religiöse Endzeittheorie, die vor allem unter evangelikalen Christ*innen, aber auch den Zeug*innen Jehovas verbreitet ist: Jesus wird zurückkehren und alle Rechtschaffenen in den Himmel emporheben, während die Zurückbleibenden die Zeit der „Grossen Trübsal“ durchleben müssen. Auch unter nicht gläubigen Menschen ist das Gefühl verbreitet, an einem kritischen Punkt, ja, einer „Endphase“ der Menschheit angelangt zu sein – Pandemien, Klimawandel und Kriege, Einsparungen im Sozialund Gesundheitswesen, während soziale Ungleichheiten weiter wachsen. Im Stil eines fiktiven Doku-Dramas zeigt Lucy Kirkwood, wie schnell im Internetzeitalter reale Missverhältnisse zu Paranoia, wahre Liebe zu toxischen Beziehungsmustern führen können. Und der Wunsch nach einer besseren Welt in Verzweiflung und (Selbst-)Zerstörung umschlagen kann. Regisseur Jan Bosse greift in seiner Inszenierung den humorvollen Grundton von Kirkwood auf und schafft mit Zitaten aus unterschiedlichen internationalen Protestkulturen wie den Fröschen aus den amerikanischen No-Kings-Demos sowie Kultfilmen eine einladende Welt, die sich klaren Zuordnungen in links und rechts entzieht, und langsam abgleitet in einen sogartigen Abwärtsstrudel, aus dem es kein Entkommen gibt.
Text: Sophie Steinbeck
Was ist Überwachungskapitalismus?
Seit Langem schon sind wir uns einig über die Entwicklungsmechanismen des Kapitalismus – dass er außerhalb der Marktdynamik Existierendes in Beschlag nimmt und in ein Marktgut verwandelt. Der Historiker Karl Polanyi sah 1944 in seiner grandiosen Abhandlung „The Great Transformation“ die Ursprünge einer sich selbst regulierenden Marktwirtschaft in drei ebenso erstaunlichen wie kritischen Erfindungen, die er als „Warenfiktionen“ bezeichnete. Die erste davon war, dass unser Menschenleben sich der Marktdynamik unterordnen und – als „Arbeit“ wiedergeboren – kaufen beziehungsweise verkaufen lässt. Die zweite war, dass Natur sich – als „Land“ oder „Grundbesitz“ wiedergeboren – auf den Markt „bringen“ lässt. Die dritte bestand darin, dass Austausch als „Geld“ wiedergeboren werden kann. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus hat seinen Ursprung in einer gar noch verblüffenderen und kühneren Erfindung: Er erklärt Erfahrungen von Privatmenschen zum kostenlosen Rohstoff für Produktion und Verkauf. Ist menschliche Erfahrung erst einmal für den Markt beansprucht, wird sie zur Berechnung in Verhaltensdaten übertragen und analysiert. Und auch wenn ein Teil dieser Daten der Verbesserung von Produkten oder Dienstleistungen dienen mag, der Rest wird zum proprietären „Verhaltensüberschuss“ (behavioral surplus) erklärt. Dieser Überschuss umfasst Daten von erheblichem Vorhersagewert, die weit über alles hinausgehen, was man zur Verbesserung eines Produkts oder einer Dienstleistung braucht. Seien Sie sich darüber im Klaren: Wenn von aus menschlicher Erfahrung extrahiertem Verhaltensüberschuss die Rede ist, bleibt nichts ausgenommen. Ihren Ursprung hatten diese Operationen in dem Verhaltensüberschuss, der aus unserem Online-Verhalten – Browsing, Suche, Social Media – gewonnen wurde, sie erfassen heute jedoch jede Bewegung, jedes Gespräch, jeden Gesichtsausdruck, jeden Laut, jeden Text, jedes Bild, das der ubiquitären, rund um die Uhr arbeitenden Extraktionsarchitektur zugänglich ist oder künftig zugänglich sein wird. Ich habe dieser Architektur den Namen Big Other gegeben. In dieser digitalen Umklammerung wird jedes „smarte“ Gerät, jedes Interface, jeder Touchpoint zum Knotenpunkt eines unermesslichen Nachschubnetzes, das einzig dem Aufspüren, Verfolgen, Herbeiführen und Extrahieren von weiterem Verhaltensüberschuss dient. Triebfeder dieser Jagd ist ein ganz neues, vom Wettbewerb bestimmtes Ringen. In einer Welt allzeit verfügbarer Produkte und Dienstleistungen wenden sich heute Unternehmen dem Verhaltensüberschuss als lang ersehnte Erfolgsroute zu höheren Gewinnen zu. Ergebnis dieser Entwicklung sind ganze Ökosysteme von Verhaltensüberschusslieferanten, da Unternehmen aller Sektoren Mittel und Wege suchen, von dieser universellen Enteignung privater Erfahrung zu profitieren. In diesen wachsenden Beständen von proprietärem Verhaltensüberschuss finden Sie Ihre Tränen, Ihre zornige Miene, die Geheimnisse, die Ihre Kinder mit ihren Puppen teilen, unsere Frühstücksunterhaltung, unsere Schlafgewohnheiten, den Lärmpegel in unserem Wohnzimmer, die Anordnung der Möbel darin, Ihre zerschlissenen Joggingschuhe, Ihr Zögern beim Anblick eines Pullovers auf einem Ladentisch und die Ausrufezeichen in Facebook-Postings, die man früher einmal völlig arglos und voll Hoffnung in die digitale Entwicklung schrieb. Diese neuen Versorgungsketten sind der Nachschubweg für ein neues „Produktionsmittel“, das uns als „Maschinenintelligenz“ bekannt ist. Hierbei handelt es sich um New-Age-Fabriken, in denen Verhaltensüberschuss zu etwas verarbeitet wird, was ich als „Vorhersageprodukte“ (prediction products) bezeichne: Kalkulationen, die ahnen, was wir jetzt, bald oder irgendwann tun. Diese Vorhersageprodukte werden schließlich in rasantem Tempo vom Marktleben absorbiert und in eigens für Vorhaltensvorhersagen konstituierten Märkten gehandelt, die ich „Verhaltensterminkontraktmärkte“ (behavioral futures markets) nenne. Aufgrund der Zahl der Unternehmen, die darauf aus sind, Wetten auf unser künftiges Verhalten abzuschließen, haben Überwachungskapitalisten es mittels dieser Handelsoperationen zu immensem Reichtum gebracht. Vergessen Sie das Klischee „Wenn es nichts kostet, bist Du das Produkt“. Sie sind mitnichten das Produkt, sondern lediglich die kostenlose Quelle für den Rohstoff, der zu marktfähigen Produkten verarbeitet wird. Ich muss dabei an Elefanten denken, die majestätischsten aller Säugetiere: Überwachungskapitalisten sind Wilderer; sie schlagen Profit aus unserem Verhalten und lassen die Bedeutung, die unseren Körpern, unseren Gehirnen, unseren schlagenden Herzen innewohnt, achtlos liegen, was eine gewisse Ähnlichkeit mit dem monströsen Abschlachten von Elefanten um des Elfenbeins willen hat. Nein, Sie sind nicht das Produkt; Sie sind der zurückgelassene Kadaver. Das „Produkt“ zieht man aus dem Verhaltensüberschuss, den man Ihrem Leben entreißt.
Auszug aus „Überwachungskapitalismus“, eine Keynote, die Shoshana Zuboff am 11. Oktober 2018 auf der Konferenz „Zukunft der Datenökonomie“ des Forums Privatheit hielt. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Bernhard Schmid.
Über die Autorin Lucy Kirkwood:
Lucy Kirkwoods Stücke stellen mit der Fülle an kurzen und kürzesten Szenen mit massiven Zeitsprüngen und der Handlung auf mehreren Realitätsebenen unsere Wahrnehmung auf die Probe. Ihre Texte sind Liebesgeschichten (zwischen Paaren, aber auch Familienmitgliedern) vor politischen Hintergründen, schnelle, verzahnte, witzige Dialoge, die plötzlich durch surreale Metaebenen gebrochen werden. Es wird Raum für intime Momente geschaffen, ein Zoom auf Figuren in einer psychologischen, emotionalen Situation – bevor die Welt wieder über das Paar hereinbricht, die Szene betrachtet und beschrieben wird aus einer anderen Realitätsebene, einer anderen Perspektive. So sind ihre Texte immer auch Anleitungen, die Welt in Zusammenhängen, in Multiperspektiven zu begreifen.
Lucy Kirkwood, geboren 1984 im englischen Leytonstone, studierte Englische Literatur an der University of Edinburgh. 2005 wurde ihr Debütstück „Grady Hot Potato“ am Bedlam Theatre in Edinburgh uraufgeführt. „erst war es leer ohne herz, aber jetzt geht‘s wieder“, dessen Uraufführung 2009 war, gewann den John Whiting Award 2010, und Kirkwood selbst wurde für den Evening Standard Award als Beste Newcomerin nominiert. Seit 2010 arbeitet sie regelmäßig mit der Regisseurin Katie Mitchel zusammen. Außerdem hat Kirkwood an der BBC4-Serie „Skin“ mitgeschrieben. Im Oktober 2013 hatte ihr Stück „NSFW“ Premiere am Royal Court Theatre; im Mai 2013 wurde „Chimerica“ am Almeida Theatre, London, uraufgeführt, das im August desselben Jahres ins West End wechselte und 2014 ausgezeichnet wurde mit dem Evening Standard Award, dem Critics Circle Award, dem Susan Smith Blackburn Award sowie mit dem Olivier Award als bestes neues Theaterstück. Ihr Stück „Die Kinder“ lief nach seiner Uraufführung am Londoner Royal Court Theatre auch am New Yorker Broadway und war 2018 u. a. nominiert für den Tony Award als bestes neues Stück. 2020 zeigte Channel 4 ihre vierteilige TV-Serie „Adult Material“, die in Deutschland unter dem Titel „Nur für Erwachsene“ 2022 auch in der ARD zu sehen war. „Entrückt“, im englischen Original „Rapture“, wurde 2022 unter dem Titel „That Is Not Who I Am“ unter dem Pseudonym Dave Davidson am Royal Court Theatre in London uraufgeführt.
Lucy Kirkwood, geboren 1984 im englischen Leytonstone, studierte Englische Literatur an der University of Edinburgh. 2005 wurde ihr Debütstück „Grady Hot Potato“ am Bedlam Theatre in Edinburgh uraufgeführt. „erst war es leer ohne herz, aber jetzt geht‘s wieder“, dessen Uraufführung 2009 war, gewann den John Whiting Award 2010, und Kirkwood selbst wurde für den Evening Standard Award als Beste Newcomerin nominiert. Seit 2010 arbeitet sie regelmäßig mit der Regisseurin Katie Mitchel zusammen. Außerdem hat Kirkwood an der BBC4-Serie „Skin“ mitgeschrieben. Im Oktober 2013 hatte ihr Stück „NSFW“ Premiere am Royal Court Theatre; im Mai 2013 wurde „Chimerica“ am Almeida Theatre, London, uraufgeführt, das im August desselben Jahres ins West End wechselte und 2014 ausgezeichnet wurde mit dem Evening Standard Award, dem Critics Circle Award, dem Susan Smith Blackburn Award sowie mit dem Olivier Award als bestes neues Theaterstück. Ihr Stück „Die Kinder“ lief nach seiner Uraufführung am Londoner Royal Court Theatre auch am New Yorker Broadway und war 2018 u. a. nominiert für den Tony Award als bestes neues Stück. 2020 zeigte Channel 4 ihre vierteilige TV-Serie „Adult Material“, die in Deutschland unter dem Titel „Nur für Erwachsene“ 2022 auch in der ARD zu sehen war. „Entrückt“, im englischen Original „Rapture“, wurde 2022 unter dem Titel „That Is Not Who I Am“ unter dem Pseudonym Dave Davidson am Royal Court Theatre in London uraufgeführt.
Text: Sophie Steinbeck
Biographie: Rowohlt Theater Verlag
Versionen von Wirklichkeit - Statement von Regisseur Jan Bosse:
„rapture“ heißt wörtlich übersetzt: Begeisterung, Rausch, Verzückung, Erlösung - als ‚Entrückung‘ ist es ursprünglich ein religiöser Begriff, der bezeichnet, wenn in der letzten biblischen Schlacht alle Gläubigen von der Erde erlöst werden. Die Ungläubigen werden zurückgelassen.
Mich fesselt diese fiktive Rekonstruktion eines Kriminalfalles. Die Geschichte eines jungen Paares, das sich zunehmend politisch radikalisiert - auf beunruhigende Weise schwer einzuordnen zwischen rechts und links - das sich zunehmend verfolgt fühlt durch Überwachung und Datenklau. Ich denke, Celeste und Noah Quilter stehen auch für einen größer werdenden Teil unserer Gesellschaft, der sich von der klassischen Politik nicht mehr repräsentiert fühlt, und dadurch gefährlich ‚ungreifbar‘ wird für die Diskurse und Methoden der Demokratie. Kirkwoods Figuren beginnen, sich ihre Version von Wirklichkeit selbst zu basteln. Sie dringen immer tiefer in ihr „rabbit hole“ vor, kapseln sich immer mehr ab von der äußeren gesellschaftlichen Realität, während gleichzeitig ihre virtuelle Reichweite als Influencer*innen massiv zunimmt. Sie glauben zunehmend nicht mehr an die demokratischen Strukturen, weil sie sie als immer korrupt und korrumpierbar empfinden. Das Genre Doku-Thriller, mit dem die Autorin hier spielt, die krude Mischung aus Rekonstruktion einer Geschichte und gespielten Szenen ist für mich als Regisseur eine spannende Aufgabe - wie sich aus erzählerischen und spielerischen Puzzleteilen der Krimi im besten Fall im eigenen Kopf des Publikums zusammensetzt.
Zu Anfang wirkt die Behauptung des Stückes selber recht ausgedacht, fast wie eine eigene Verschwörungstheorie - nämlich dass das junge Paar, das am Ende tot in ihrer Wohnung aufgefunden wird, keinen tragischen Selbstmord begangen hat, sondern eventuell durch einen politischen Mord aus dem Weg geräumt wurde, weil die beiden zu unbequem und gefährlich wurden. Dieses Spiel mit der Paranoia wird im Laufe des Abends immer ambivalenter, weil die Schnipsel der theatralen Realität, die wir sehen, es eher immer unwahrscheinlicher machen, das es beim „Tod der Quilters“ mit rechten Dingen zuging. Und das Theater als Medium der kunstvoll konstruierten Lügen gerät selber in Schlingerkurs.
Aber wie heißt es so schön: „Nur weil ich paranoid bin, heißt das ja nicht, dass ich nicht wirklich verfolgt werde!“
Mich fesselt diese fiktive Rekonstruktion eines Kriminalfalles. Die Geschichte eines jungen Paares, das sich zunehmend politisch radikalisiert - auf beunruhigende Weise schwer einzuordnen zwischen rechts und links - das sich zunehmend verfolgt fühlt durch Überwachung und Datenklau. Ich denke, Celeste und Noah Quilter stehen auch für einen größer werdenden Teil unserer Gesellschaft, der sich von der klassischen Politik nicht mehr repräsentiert fühlt, und dadurch gefährlich ‚ungreifbar‘ wird für die Diskurse und Methoden der Demokratie. Kirkwoods Figuren beginnen, sich ihre Version von Wirklichkeit selbst zu basteln. Sie dringen immer tiefer in ihr „rabbit hole“ vor, kapseln sich immer mehr ab von der äußeren gesellschaftlichen Realität, während gleichzeitig ihre virtuelle Reichweite als Influencer*innen massiv zunimmt. Sie glauben zunehmend nicht mehr an die demokratischen Strukturen, weil sie sie als immer korrupt und korrumpierbar empfinden. Das Genre Doku-Thriller, mit dem die Autorin hier spielt, die krude Mischung aus Rekonstruktion einer Geschichte und gespielten Szenen ist für mich als Regisseur eine spannende Aufgabe - wie sich aus erzählerischen und spielerischen Puzzleteilen der Krimi im besten Fall im eigenen Kopf des Publikums zusammensetzt.
Zu Anfang wirkt die Behauptung des Stückes selber recht ausgedacht, fast wie eine eigene Verschwörungstheorie - nämlich dass das junge Paar, das am Ende tot in ihrer Wohnung aufgefunden wird, keinen tragischen Selbstmord begangen hat, sondern eventuell durch einen politischen Mord aus dem Weg geräumt wurde, weil die beiden zu unbequem und gefährlich wurden. Dieses Spiel mit der Paranoia wird im Laufe des Abends immer ambivalenter, weil die Schnipsel der theatralen Realität, die wir sehen, es eher immer unwahrscheinlicher machen, das es beim „Tod der Quilters“ mit rechten Dingen zuging. Und das Theater als Medium der kunstvoll konstruierten Lügen gerät selber in Schlingerkurs.
Aber wie heißt es so schön: „Nur weil ich paranoid bin, heißt das ja nicht, dass ich nicht wirklich verfolgt werde!“
Faktencheck: Erwähnte Verschwörungstheorien:
9/11:
[D]as wohl stärkste Indiz für eine 9/11-Verschwörung basiere angeblich auf technischen Fakten: Die Wucht der Flugzeugeinschläge sowie die Hitze der daraus resultierenden Brände hätten nicht ausge-reicht, um die Gebäude zum Einsturz zu bringen. Gezielte Sprengungen sollen zum Kollaps des World Trade Centers geführt haben. […] Und es stimmt: Flugzeugkerosin brennt nicht heiß genug, um Stahl zu schmelzen. Sehr wohl aber heiß genug, dass sich Stahlträger unter tausenden Tonnen Last verformen - bis sie schließlich einknicken.Auschnitt aus: „Verschwörungstheorien zu 9/11“ von Alexander Meyer-Thoene, Bundeszentrale für Poli-tische Bildung
Chemtrails:
Zahllose wissenschaftliche und staatliche Institutionen und Wissenschaftler aus dem internationalen wie aus dem deutschen Raum haben in der Vergangenheit wiederholt klargestellt, dass es keine wissen-schaftlichen Belege für Chemtrails gebe, Kondensstreifen hinter Flugzeugen ein meteorologisch erklär-bares Phänomen seien und die Behauptung einer geheimen Klimamanipulation oder Vergiftungskam-pagne mittels heimlicher Sprühaktionen einer seriösen Grundlage entbehre.Ausschnitt aus: „Zur Chemtrail-Hypothese: Hintergründe, innere Logik und Klassifikation als Verschwö-rungstheorie“, Hrgs. vom deutschen Bundestag
Covid Labor Theorie:
Der Bundesnachrichtendienst (BND) ging 2020 davon aus, dass das Coronavirus aus einem chinesischen Labor in Wuhan stammt. Ein entsprechendes Geheimpapier wurde damals angefertigt, aber bisher durch keine Bundesregierung veröffentlicht. […]
Wahr ist, dass das BND-Papier existiert und dass es bisher als Verschluss- oder Geheimsache eingestuft wurde. Die übereinstimmende Berichterstattung mehrerer deutscher Medien lässt keinen anderen Schluss zu. […] Der mögliche Laborunfall von Wuhan kann damit durchaus als Vertuschungs- bezie-hungsweise Geheimhaltungsfall eingestuft werden. Die vollen Merkmale einer Verschwörungserzählung werden aber nicht erfüllt.Ausschnitt aus „Stimmt es, dass Verschwörungstheorien auch wahr werden können?“ von Benjamin Winkler, September 2025
Mondlandung:
Glossar:
DRG System:
Extinction Rebellion:
Extinction Rebellion ist eine radikale Umweltschutzbewegung mit dem erklärten Ziel, durch Mittel des zivilen Ungehorsams Maßnahmen von Regierungen gegen das Massenaussterben von Tieren, Pflanzen und Lebensräumen sowie das mögliche Aussterben der Menschheit als Folge der Klimakrise zu erzwingen.
Guy Fawkes Night:
Am 5. November feiern die Menschen in England den Guy Fawkes Day, auch bekannt als Bonfire Night. Es ist ein Tag, an dem die Briten die Vereitelung des Gunpowder Plots, eine geplante Ermordung des Königs, von 1605 feiern. Traditionell wird dabei eine „Guy Fawkes“ Figur verbrannt, ursprünglich ein Sinnbild des Verräters gegen den König, in neueren Jahren auch aktuelle politische Figuren wie Tony Blair.
Die Guy Fawkes Maske ist zu einem Symbol der Anonymität und des Aufstands in der modernen Welt geworden. Heute wird die Guy Fawkes Maske oft von Aktivisten bei Protesten auf der ganzen Welt getragen.
Die Guy Fawkes Maske ist zu einem Symbol der Anonymität und des Aufstands in der modernen Welt geworden. Heute wird die Guy Fawkes Maske oft von Aktivisten bei Protesten auf der ganzen Welt getragen.
Pegasus
Pegasus ist eine Spyware des israelischen Unternehmens NSO Group zum Ausspähen von iOS- und Android-Geräten. Die Software kann unbemerkt auf sämtliche Daten zugreifen und sie über das Internet versenden. Pegasus wurde im August 2016 durch die Sicherheitsfirma Lookout und das Citizen Lab (Universität Toronto) entdeckt und analysiert. Sie gilt als eine der mächtigsten jemals entwickelten Cyberwaffen und wird in erster Linie an Staaten vermarktet. Laut den Entwicklern wird die Cyberware nur vertrieben, um Regierungen in der Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität zu unterstützen, jedoch wurden auch Journalisten, Menschenrechtler, Anwälte und Politiker mit Hilfe von Pegasus ausgespäht.
Verschwörungstheorien: Eine Einführung:
Das Coronavirus existiert gar nicht, aber die Regierung schürt Panik, um unsere Grundrechte einzuschränken. Bill Gates steckt hinter der "Plandemie", um einen globalen Impfzwang durchzusetzen und so die Weltbevölkerung zu dezimieren. Vielleicht ist aber auch die 5G-Technologie für die Entstehung des Virus verantwortlich. Verschwörungstheorien sind derzeit in aller Munde. Ein signifikanter Teil der Bevölkerung glaubt an sie, und diejenigen, die nicht an sie glauben, betrachten sie mit wachsender Sorge.
Beides, der Glaube wie die Sorge, ist verständlich. Verschwörungstheorien erfüllen wichtige Funktionen für die Identität derjenigen, die an sie glauben. Sie schließen Zufall und Kontingenz aus und betonen stattdessen menschliche Handlungsmacht. Sie bedienen Vorstellungen von autonom handelnden Individuen, die besser ins 18. oder 19. Jahrhundert als in die Gegenwart passen. Zudem ermöglichen sie es, vermeintlich Schuldige zu identifizieren. Während in den klassischen Sündenbocktheorien meist Einzelpersonen aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden, nehmen Verschwörungstheorien immer Kollektive ins Visier. Und gerade in Zeiten, in denen es (noch) nicht (wieder) normal ist, an solche Theorien zu glauben, ermöglichen es Verschwörungstheorien ihren Anhänger*innen, sich aus der Masse der Menschen hervorzuheben. Wer an Verschwörungstheorien glaubt, kann von sich behaupten, "aufgewacht" zu sein und erkannt zu haben, wie die Welt wirklich funktioniert, während die Mehrheit dies noch immer verkennt.
Auch die Sorge über Verschwörungstheorien ist berechtigt. Zwar sind nicht alle Verschwörungstheorien gefährlich und beileibe nicht alle Menschen, die an sie glauben. Doch Verschwörungstheorien können problematische Konsequenzen haben. Sie können Gewalt legitimieren, wie nicht zuletzt die Attentate von Halle und Christchurch gezeigt haben. Wer sich als Opfer eines globalen Komplotts sieht, kann sich dazu berufen fühlen, zur Waffe zu greifen. Medizinische Verschwörungstheorien sind darüber hinaus gefährlich, weil sie dazu führen können, dass man sich und andere unabsichtlich gefährdet. Wer denkt, dass das Coronavirus nicht existiert oder harmlos ist, hält Abstands- und Hygieneregeln weniger streng ein oder verletzt sie gar bewusst als Akt zivilen Ungehorsams. Schließlich können Verschwörungstheorien das Vertrauen in die Demokratie beschädigen. Wer meint, dass alle Politiker*innen unter einer Decke stecken, beteiligt sich vielleicht nicht mehr an Wahlen oder gibt seine Stimme den Populist*innen. Wer glaubt, dass eine demokratische Wahl gefälscht wurde, geht dagegen womöglich mit Gewalt vor, wie es am 6. Januar 2021 beim Sturm auf das Kapitol in Washington geschah.
[…] Die meisten Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind nicht psychisch krank, wie man früher vermutete, sondern ganz normal. Sie wissen, dass ihre Überzeugungen von vielen, mit denen sie täglich zu tun haben, abgelehnt werden. Entsprechend behalten sie ihre Ansichten für sich und äußern sie nur unter Gleichgesinnten. […] Die Coronakrise dagegen macht aufgrund der vielfältigen Einschränkungen des sozialen Lebens eine ständige Positionierung notwendig […] meist um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen man sich überhaupt treffen konnte. Das führte zwangsläufig dazu, dass diejenigen, die die Kontaktbeschränkungen als Teil eines Komplotts sehen, dies auch sagten. Das mag bei vielen Menschen den Eindruck erweckt haben, dass es plötzlich auch in ihrem Umfeld Verschwörungstheoretiker*innen gibt. Das ist nicht unbedingt falsch, denn bestimmt haben einige Menschen Verschwörungstheorien erst durch Corona entdeckt. In den allermeisten Fällen aber, das belegen die Zahlen, glaubten Kolleg*innen, Freund*innen und Verwandte schon vorher an Verschwörungstheorien; man wusste es nur nicht.
Beides, der Glaube wie die Sorge, ist verständlich. Verschwörungstheorien erfüllen wichtige Funktionen für die Identität derjenigen, die an sie glauben. Sie schließen Zufall und Kontingenz aus und betonen stattdessen menschliche Handlungsmacht. Sie bedienen Vorstellungen von autonom handelnden Individuen, die besser ins 18. oder 19. Jahrhundert als in die Gegenwart passen. Zudem ermöglichen sie es, vermeintlich Schuldige zu identifizieren. Während in den klassischen Sündenbocktheorien meist Einzelpersonen aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden, nehmen Verschwörungstheorien immer Kollektive ins Visier. Und gerade in Zeiten, in denen es (noch) nicht (wieder) normal ist, an solche Theorien zu glauben, ermöglichen es Verschwörungstheorien ihren Anhänger*innen, sich aus der Masse der Menschen hervorzuheben. Wer an Verschwörungstheorien glaubt, kann von sich behaupten, "aufgewacht" zu sein und erkannt zu haben, wie die Welt wirklich funktioniert, während die Mehrheit dies noch immer verkennt.
Auch die Sorge über Verschwörungstheorien ist berechtigt. Zwar sind nicht alle Verschwörungstheorien gefährlich und beileibe nicht alle Menschen, die an sie glauben. Doch Verschwörungstheorien können problematische Konsequenzen haben. Sie können Gewalt legitimieren, wie nicht zuletzt die Attentate von Halle und Christchurch gezeigt haben. Wer sich als Opfer eines globalen Komplotts sieht, kann sich dazu berufen fühlen, zur Waffe zu greifen. Medizinische Verschwörungstheorien sind darüber hinaus gefährlich, weil sie dazu führen können, dass man sich und andere unabsichtlich gefährdet. Wer denkt, dass das Coronavirus nicht existiert oder harmlos ist, hält Abstands- und Hygieneregeln weniger streng ein oder verletzt sie gar bewusst als Akt zivilen Ungehorsams. Schließlich können Verschwörungstheorien das Vertrauen in die Demokratie beschädigen. Wer meint, dass alle Politiker*innen unter einer Decke stecken, beteiligt sich vielleicht nicht mehr an Wahlen oder gibt seine Stimme den Populist*innen. Wer glaubt, dass eine demokratische Wahl gefälscht wurde, geht dagegen womöglich mit Gewalt vor, wie es am 6. Januar 2021 beim Sturm auf das Kapitol in Washington geschah.
[…] Die meisten Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind nicht psychisch krank, wie man früher vermutete, sondern ganz normal. Sie wissen, dass ihre Überzeugungen von vielen, mit denen sie täglich zu tun haben, abgelehnt werden. Entsprechend behalten sie ihre Ansichten für sich und äußern sie nur unter Gleichgesinnten. […] Die Coronakrise dagegen macht aufgrund der vielfältigen Einschränkungen des sozialen Lebens eine ständige Positionierung notwendig […] meist um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen man sich überhaupt treffen konnte. Das führte zwangsläufig dazu, dass diejenigen, die die Kontaktbeschränkungen als Teil eines Komplotts sehen, dies auch sagten. Das mag bei vielen Menschen den Eindruck erweckt haben, dass es plötzlich auch in ihrem Umfeld Verschwörungstheoretiker*innen gibt. Das ist nicht unbedingt falsch, denn bestimmt haben einige Menschen Verschwörungstheorien erst durch Corona entdeckt. In den allermeisten Fällen aber, das belegen die Zahlen, glaubten Kolleg*innen, Freund*innen und Verwandte schon vorher an Verschwörungstheorien; man wusste es nur nicht.
Ausschnitt aus „Verschwörungstheorien: Eine Einführung“ von Prof. Michael Butter
Im Anschluss an die Vorstellung am Sonntag, 15.02.2026, wird es ein Nachgespräch mit Prof. Butter geben.
Weiterführende Inhalte:
Rapture – Endzeittheorien 2025:
2025 verbreitete sich auf TikTok die Idee, dass die Welt im September auf die „Entrückung“ und die „Grosse Trübsal“ zulaufe. Was steckt hinter diesem Glauben?
Datenschutz zum Anziehen:
Das Leipziger Label Urban Privacy vertreibt Kleidung gegen Gesichtserkennung und Datentracking.
This is not a game – Die Entwicklung von QAnon:
Vortrag von Arne Vogelgesang über die Entwicklung von QAnon als Spiel mit Realität und die Frage, weshalb dieser Verschwörungsmythos sich derart schnell verbreiten konnte.
Arne Vogelgesang wurde 1977 in Berlin geboren und ist ein bedeutender Theater- und Videokünstler. Er hat eine Regieausbildung am Max-Reinhardt-Seminar Wien absolviert und ist seit 2005 Mitglied des Theaterlabels internil. Seine Arbeit konzentriert sich auf politische Radikalisierung, deviante Praktiken und die Digitalisierung des Menschlichen. Vogelgesang experimentiert mit verschiedenen Zusammensetzungen von dokumentarischem Material, neuen Medien und Performance. Er ist auch als Videokünstler tätig, hält Vorträge und Workshops zur Ästhetik radikaler Internet-Propaganda und veröffentlicht literarische Texte.
Pflege-Aktivismus in Hessen:
Franziska Böhler ist Krankenschwester und mehrfach ausgezeichnete Autorin der Bücher „I’m a nurse“ und „I still care“. Als @thefabulousfranzi hat die Mutter von zwei Kindern über 229.000 Follower*innen auf Instagram, wo sie regelmäßig aus dem Klinikalltag berichtet und auf den Pflegenotstand aufmerksam macht.